ISRAEL 25. Apr 2025

Durchhalten als Staatsmaxime

Shin-Bet-Chef Ronen Bar stemmt sich gegen politischen Einfluss.

Eine Affäre jagt in Israel die nächste, innenpolitisch kämpfen alle gegen alle und jeder für sich – die Armee bezahlt dafür einen hohen Preis.

Es schaut nicht gut aus in Gaza. Für die palästinensische Bevölkerung ist die Situation sowieso ein nicht enden wollendes Desaster. Aber auch für die israelische Armee ist die Lage alles andere als gut. Wenn man bedenkt, dass das beste und stärkste Militär des Nahen Ostens gegen eine islamistische Terrororganisation nun schon seit anderthalb Jahren kämpft und der oft versprochene «totale Sieg» nicht einmal am Horizont zu erkennen ist, dann weiss man, dass Israel, vor allem aber die israelische Regierung, ein echtes Problem hat. Immer noch befinden sich 59 Geiseln in den Händen der Hamas, die internationale Staatengemeinschaft ist einfach nur noch entsetzt über Israels Vorgehen und das Vorenthalten von Hilfsgütern für die notleidende Bevölkerung in Gaza. Diese Hilfsgüter sind im Augenblick einer der Gründe, warum es in der Regierung zu einem Eklat gekommen ist. Der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich attackierte Generalstabschef Eyal Zamir, weil dieser klipp und klar erklärte, dass die Soldaten nicht – wie von Smotrich verlangt – die Verteilung von Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten übernehmen würden. Smotrich tobte und wollte Zamir in die Schranken weisen, die Armee habe gefälligst die Befehle der Regierung durchzuführen.

Rekrutierung der Ultraorthodoxen
Doch Zamir hat natürlich recht. Ebenso wie schon sein von Netanyahu & Co. gehasster Vorgänger Herzi Halevi weiss Zamir, dass die Soldaten Freiwild für die Hamas werden würden, wenn sie Kisten und Reissäcke durch die Gegend tragen. Aber Zamir weiss noch mehr. Dass die völlige Übernahme des Gazastreifens mit der Errichtung einer Militärregierung, wie sie Smotrich und seinen rechtsextremen Freunden vorschwebt, nicht zu machen ist mit der geringen Anzahl an Soldaten, die die Armee noch zur Verfügung hat. Denn viele Reservisten kommen nicht mehr zum Dienst, wenn sie gerufen werden. Sie finden Gründe, um sich zu verweigern, seien es posttraumatische Belastungsstörungen nach Monaten des Kampfes in Gaza, sei es finanzieller Druck, weil man monatelang vom Arbeitsplatz weg war. Womit ein drittes Problem ins Spiel kommt: die Rekrutierung der Ultraorthodoxen. Ebenso wie Halevi fordert auch Zamir, dass man sie nun endlich konsequent einberuft. Doch das wird natürlich nicht geschehen.

Die ultraorthodoxen Parteien drängen auf ein Gesetz, das sie endgültig und für immer vom Militärdienst befreit. Und Netanyahu wird irgendwie liefern müssen, wenn er nicht möchte, dass seine Koalition auseinanderfliegt. Doch gleichzeitig muss er auch Smotrich, Ben Gvir und andere «bedienen», denn diese wollen Gaza annektieren und Siedlungen errichten. Das alles klingt nach der Quadratur des Kreises, ist aber noch so viel schlimmer. Denn abgesehen von Israels internationaler Reputation, abgesehen von der Frage, wie lange die Geiseln noch in den Tunneln durchhalten können, abgesehen von der Not der palästinensischen Bevölkerung und nicht zuletzt der Gefahr für Leib und Leben der israelischen Soldaten, verspielt Netanyahu derzeit den militärischen strategischen Vorteil, den die Armee letztes Jahr erzielt hat, als die Hamas mehr oder weniger geschlagen, zumindest soweit das möglich ist, die Hizbollah maximal geschwächt, Iran schwer beeinträchtigt und seine Luftabwehr beinahe komplett ausgeschaltet waren. Israel hätte von dieser Kriegsdividende strategisch und auch politisch profitieren können. Doch das alles wird bald nichts mehr zählen, wenn die IDF im Sumpf von Gaza versinken wird und die Koalitionäre mit unterschiedlichsten Zielen einen Premier bedrohen, der seine Macht nicht verlieren will. Und schon warnen Generäle, dass man nicht zulassen dürfe, dass sich die Hizbollah im Libanon wieder erholt.

Planlos zum «Endspiel»
Wer es immer noch nicht sehen will, wird von Tag zu Tag eines besseren belehrt: Die israelische Regierung hat keinen Plan, keine Idee, was sie erreichen will, wie das «Endspiel» aussehen soll. Vor diesem Hintergrund geht das Getöse zwischen Netanyahu und Shin-Bet-Chef Ronen Bar weiter, dessen eidesstattliche Erklärung nicht weniger besagt, als dass Netanyahu mutmasslich einen Coup gegen die Demokratie im Auge habe.

Wie lange kann Israel eigentlich noch eine solche Krise verkraften? Am jetzigen Jom Haschoah ist diese Frage natürlich für Juden in aller Welt unerträglich. Doch die Probleme sind hausgemacht und haben nichts mit links oder rechts, mit Sympathie oder Antipathie für Netanyahu zu tun. Die israelische Regierung hat sich selbst in eine Ecke bugsiert, aus der sie nicht mehr herauszukommen scheint. Die Dramatik wird dabei noch gesteigert, weil ausgerechnet in dieser Situation der amerikanische Präsident Donald Trump heisst und zumindest in Gaza Israel freie Hand lässt. Ein fataler Fehler, für den eines Tages nicht Washington, sondern Jerusalem die Rechnung serviert bekommen wird.

Denn kaum jemand denkt in Israel darüber nach, was denn wirklich sein wird, wenn der Gaza-Krieg irgendwann mal vorbei und Netanyahu nicht mehr an der Macht sein wird. Ganz egal wie der neue Premier dann heissen wird, der Hass und die Verurteilung Israels auf dem internationalen Parkett wird er ertragen müssen, wird er ausbaden, auslöffeln und vor allem: lösen müssen. Die Bilder aus Gaza werden nicht vergehen, wohingegen die Bilder vom 7. Oktober schon jetzt in Vergessenheit geraten sind. Kann Israel sich von dieser Katastrophe wieder erholen? Oder wird sich das Land mit seinen neuen «Verbündeten», den internationalen Rechtspopulisten, weiterhin ins Bett legen, um opportunistisch sein Überleben zu sichern? Nach der desaströsen Antisemitismus-Konferenz in Jerusalem vor wenigen Wochen scheint nichts mehr unmöglich zu sein.

Premier Netanyahu wird in den nächsten Wochen jonglieren müssen. Mit den Forderungen der Frommen, den Forderungen der Rechtsextremen und den Anschuldigungen des Shin-Bet-Chefs. Da aber ist er in seinem Element. Solche Situationen, in die er sich stets selbst hineinmanövriert, scheinen sein Lebenselixier zu sein, denn bislang hat er sich noch stets aus jedem Desaster wie Phönix aus der Asche erheben können. Andere Politiker wären längst zusammengebrochen und von der Bildfläche verschwunden. Nicht aber Netanyahu. Zwar ist es bis zu den nächsten Wahlen noch ein weiter Weg, doch kaum einer zweifelt in Israel, dass der Premier bis dahin durchhalten wird. Nur ob die Menschen im Land das alles bis dahin noch aushalten wollen, das weiss niemand so genau.

Richard C. Schneider