Das Jüdische Logbuch 28. Sep 2018

Eruv wider die Grenzerfahrung

St. Louis, September 2018. Wie weit darf man laufen? Die Gemara diskutiert im Traktat Eruvim das Reisen an Schabbat und Jom Tov. Damals hiess Reisen Laufen. Die Gemara sieht den «eruv techumin» vor, um eine Stadt über 2000 Ellen hinaus zu verlassen. Und zwar so: Vor Schabbat hinterlegt der «Reisende» ein Esspaket und kreiert sozusagen einen symbolischen Ort. Das Traktat Eruvim verhandelt neben den technischen Vorgaben und Definitionen von Grenzen oder Räumen vor allem das Öffentlichkeitsprinzip. Die Gemara unterscheidet zwischen dem öffentlichen Raum, «reschut harabim», und dem privaten «reschut hajachid» sowie dem Zusatzbereich «carmelit» und einen neutralen. Zuerst geht's um die Frage, was im einen oder anderen Bereich getragen oder getan werden kann. Doch wie immer verhandeln die Texte vor allem auch philosophische Ideen. Spannend zu lesen in Zeiten, da der öffentliche Raum nicht nur virtueller wird, sondern eben auch in jeder Hinsicht weniger klar umrissen scheint.

Es ist Jom Kippur in Basel. Ein strahlender Spätsommernachmittag am Rheinufer in der Pause zwischen Mussaf und Mincha. Der Blick reicht weit ins südliche Elsass, nach Südbaden und irgendwie in Richtung der grossen mittelalterlichen jüdischen Zentren am Rhein, die so bedeutend wurden für jüdische Exegese und Lernen. Von Basels Mittlerer Rheinbrücke führt der Weg am Hotel Les Trois Rois dem Wasser entlang bis nach Frankreich. Unbemerkt wird die Grenze von Basel nach St. Louis überquert. Jene Grenze, die noch vor wenigen Jahrzehnten über Leben und Tod entscheiden konnte und eine war, die zwischen den verfeindeten Mächten Deutschland und Frankreich das Elsass zum Spielball machte. Grenzen und Grenzerfahrung sind der Region eingeschrieben, was bis hinauf in die noch immer florierende jüdische Zentrumsstadt Strassburg zu sehen ist. Eine Region mit immer wieder wechselnden Grenzen. Wäre die Gemara an dieser Stelle überfordert? Wo ist die Grenze, wenn es keine mehr gibt? Was sagt das Traktat in Eruvim, wenn am Fasttag Jom Kippur die Stadt verlassen wird ohne Einrichtung des «eruv techunim», den man ja ohnehin dann nicht essen kann? Darf die Stadt verlassen werden, um einen Minjan im Nachbarort jenseits der Landesgrenze zu besuchen?

St. Louis ist die erste kleine Stadt nach der Schweizer Grenze. Unweit vom Rheinufer hat sie, wie so viele Dörfer im Elsass, eine prächtige Synagoge. Sie ist allerdings eine der wenigen mit existierender Gemeinde und hat jeweils an Schabbatot und Feiertagen einen Minjan. Unweit der Synagoge befindet sich die Jeschiwa, die ebenfalls einen Minjan und eine jüdische Schule hat, die von Kindern aus der Region bis hin nach Colmar besucht werden.

Die Pause ist vorbei und Mincha hat längst begonnen. Der Vorbeter liest die Haftara über den Propheten Jona, den Ungehorsam, seiner Reise nach Ninive im Disput mit Gott. Von draussen dringen die Geräusche der spielenden Kinder herein. Die 1905 errichtete Synagoge leuchtet in den blauen Himmel und ist erstaunlich gross. Im Jahr 1933 wurde die Synagoge vergrössert, nachdem Juden aus angrenzenden Dörfern und jüdische Emigranten aus Deutschland hinzugekommen waren. Heute hat die kleine, aber aktive Gemeinde rund 40 Mitglieder, darunter ein paar Familien mit Kindern, Alleinstehende und einen eigenen Rabbiner. Neben der Synagoge befindet sich das Gemeindezentrum mit einem grossen Gebetsraum, eigener Küche und Wohnungen. Die Gemeinde hat wenig Mittel, aber das historische «Privileg», den Gemeinderabbiner vom Departement Haut-Rhin bezahlt zu bekommen. Dies geht auf das «Concordat» und die Zeit zurück, als das Elsass unter deutscher Herrschaft war. Nach nunmehr 20 Jahren im Amt tritt der Gemeindepräsident Gerard Meyer zurück. Im November sind Neuwahlen.

Inzwischen hat Neila begonnen. In der Dämmerung leuchten die farbigen Fenster, die Sühnegesänge dringen auf die Strasse. Rund um die Synagoge spielen immer noch Kinder. Eine andere Welt gleich neben Basel, von der das jüdische Basel wiederum in den letzten 200 Jahren so geprägt worden ist. Die jüdische Gemeinde in St. Louis ist eine von vielen zwischen grossem Potenzial für einen neuen Aufschwung und dem nostalgisch mitschwingenden Ende einer ganzen Epoche in der Region. Vieles hängt von der Wirtschaft, wenig von der Gemeinde selbst ab. Die Gemeindemitglieder wollen für die Zukunft kämpfen. Und so ist der Tenor mit dem ausgehenden Jom Kippur einhellig zuversichtlich, bevor die Synagogenbesucher sich in alle Richtungen zum Anbeissen aufmachen.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann